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“Bereits in der Gegenwart die strategisch richtigen Themen anstoßen” - Interview mit Prof. Dr. Pillkahn über die Zukunft des Bauens

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Geschrieben
29 Oktober 2020
Thema
Built Environment
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Unsere Kooperationsplattform für die Bau-, Immobilien- und Infrastrukturindustrie BEFIVE hat mit ihren Partnerunternehmen und Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft die wichtigsten Zukunftstrends analysiert und eine Vision für 2030 entwickelt - die "BEFIVE Vision for Buildings - Bauen und Nutzen von Bauwerken im Jahr 2030"! Wir haben mit Prof. Dr. Ulf Pillkahn, der als Foresight-Experte die Entwicklung der Vision methodisch begleitet hat, über die neu gewonnenen Insights und Chancen für Unternehmen gesprochen.

Am 8. Oktober haben sich die Beteiligten erneut getroffen, um gemeinsam die Kernaussagen des Visionsbildes zu reflektieren und erste konkrete Aktivitäten und Projekte abzuleiten - für uns die perfekte Gelegenheit, die Ergebnisse aus erster Hand von Prof. Pillkahn zu erfahren.


Herr Prof. Dr. Pillkahn, Sie waren maßgeblich an der Entwicklung der Vision „Bauen und Nutzen von Bauwerken in 2030“ beteiligt. Was ist das Ziel des Projektes?

Es geht in dem Projekt darum, ein Bild für die zukünftige Ausgestaltung der gesamten Bau-, Immobilien- und Infrastruktur-Wertschöpfungskette zu skizzieren – beginnend von der Planung, dem Bau, der Nutzung sowie der Ertüchtigung bzw. des Rückbaus von Bauwerken. Es galt, ein Verständnis für mögliche zukünftige Rollen und Beteiligte, Prozesse, Technologien sowie wichtige Einflüsse zu gewinnen. Nachdem sich in den letzten 100 Jahren technologisch nicht so viel verändert hat, wird sich in naher Zukunft in diesem Industriebereich umso mehr tun. Eine gemeinsame Vision unterschiedlicher Firmen aus der Branche bietet hierfür einen guten Orientierungsrahmen, der es ermöglicht bereits in der Gegenwart die strategisch richtigen Themen anzustoßen.


Sollen aus so einer Vision demnach unmittelbar konkrete Maßnahmen entstehen?

Genau. Wir haben ein Zukunftsbild visualisiert, das wesentliche Entwicklungen und Zusammenhänge darstellt. Auf dieser Grundlage ist es nun möglich, Themenfelder und Aufgabenstellungen zu definieren, die in Form von gemeinsamen Projekten bearbeitet werden und jeweils auf das große Ganze einzahlen. Gleichzeitig dient die Vision jedem beteiligten Unternehmen als Orientierungspunkt, um die individuelle Zukunftsplanung und Unternehmensstrategie zu überprüfen, was ebenfalls zu konkreten Korrekturmaßnahmen führen kann.



Auf welcher Grundlage haben Sie die Vision erarbeitet?

Ich war zuvor bei Siemens und habe dort eine „Picture of the Future“-Methodik mitentwickelt, welche auch diesem Projekt zugrunde lag. Dadurch hatten wir eine Systematik, mit der wir schrittweise der Frage näherkommen konnten, wie sich unsere Umwelt verändert. Wie verändern sich große Bereiche unseres Lebens, kann man das spezifizieren oder beschreiben? Manche Bereiche ändern sich langsam, manche sprunghaft. Auf diese Art und Weise kann man sich erschließen, wie ein Zukunftsbild aussehen kann. Das ist eine Methodik, die sich in anderen Industrien bereits bewährt hat. Man entwickelt also ein Bild dessen, wie sich die Umwelt verändert und leitet daraus ab, wie sich das Bauen und Nutzen von Bauwerken damit wandelt. Im ersten Schritt wird also die Makro-Umwelt betrachtet, auf die wir keinen direkten Einfluss nehmen können, wie z.B. Politik und deren Entscheidungen oder gesellschaftliche Trends. Dann geht man in die Mikro-Umwelt, in der sich alles konkret um Gebäude oder Infrastrukturen dreht.

BEFIVE Visionsbild 2.0 Highlights Wertschoepfungskreislauf © UnternehmerTUM Projekt GmbH, Illustratorin Natascha Römer

Visionsbild Built Environment Wertschöpfungskreislauf

Was ist aus Ihrer Sicht das Spannende an dieser Art von Zukunftsforschung?

Das Spannende ist für mich immer, wie mit der Methodik letztlich umgegangen wird: Jedes Projekt ist anders und dadurch auch das, was die Firmen daraus machen. Manche unternehmen nichts und werden dann mit den entsprechenden Versäumnissen konfrontiert. Jeder hat eine andere Vorstellung von der Zukunft – und diese Richtungen in einer Vision zusammenzubringen, war besonders spannend an diesem Projekt.



Obwohl ein Aktionspotenzial da ist, wird dieses oft nicht genutzt?

Richtig. Ein sehr gutes Beispiel ist ganz aktuell die Corona-Pandemie. Man sieht hier sehr gut, dass der Lockdown Raum für viele neue Anstöße geschaffen hat, doch das Potenzial wird oft versäumt. In einer Zeit der Unsicherheiten müssen gravierende Entscheidungen getroffen werden – mit den Informationen, die gerade vorliegen. Das ist das Schwierige, auch für die Wirtschaft.


Welchen Mehrwert hat ein Visionsprojekt für Unternehmen in der Built Environment Branche?

Jedes Unternehmen sollte durch diese Vision einen Projektionsrahmen bekommen, quasi einen Leitstern, mit dem es Entscheidungen treffen kann. Nicht aus dem Bauch heraus, sondern auf einer handfesten methodischen Basis. Es ist also eine riesige strategische Unterstützung.


Welchen Vorteil hat es, sich unternehmensübergreifend mit der Zukunft zu beschäftigen?

Durch den sehr breitgefächerten, interdisziplinären Input der teilnehmenden Firmen wird das Zukunftsbild sehr viel reichhaltiger und deckt viel mehr Aspekte ab, als nur mit einem einzigen Projektpartner. Das bringt auch größere Herausforderungen mit sich, da zwischen den einzelnen Firmen moderiert werden muss, aber das BEFIVE Team hat das sehr souverän gemeistert.


Welche großen Trends werden die Built Environment Wertschöpfungskette 2030 entscheidend prägen?

Ich denke aus der Vision ist einstimmig herausgekommen, dass die Themen Automatisierung, Industrialisierung, Digitalisierung und Vernetzung das Bauen am meisten prägen werden. Auch der Bereich BIM wird weiter auf dem Vormarsch bleiben. Was ich persönlich auch herauslese, ist, dass Nachhaltigkeit, Recycling und Materialkreisläufe zunehmend an Bedeutung gewinnen werden, denn weiterhin so CO2-lastig zu bauen wie bisher, ist keine Option mehr. Neben einem hohen gesellschaftlichen Druck wird es womöglich entsprechende Regularien geben, aber die Industrie wird hoffentlich auch selbst sensibler bei dem Thema. Wir brauchen hier große Durchbrüche, wie sie in anderen Branchen z.B. von Amazon mit Alexa oder Tesla erreicht wurden – das fehlt noch bei Bauwerken. Grundsätzlich gibt es noch viele Bereiche, in denen Digitalisierung regelrechte Quantensprünge bringen wird.

Vielen Dank für das Interview!


Prof. Pillkahn promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München zum Thema: „Innovation zwischen Planung und Zufall. Bausteine einer Theorie der bewussten Irritation“. Seine Arbeit wurde mit dem Prädikat ‚magna cum laude‘ ausgezeichnet.

Er war Gastforscher und ist Dozent an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Seit 2014 ist Pillkahn als Dozent der FOM am Hochschulzentrum München tätig und wurde dort 2016 zum Professor ernannt. An der TU München ist er Dozent der Vorlesung „Theorie und Praxis der Zukunftsforschung“. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Foresight, Innovationsmanagement und Technologiestrategien mit dem Schwerpunkt “Wie man radikale Innovationen in größeren Organisationen generiert und vorantreibt”. Er ist Autor mehrerer Bücher („Trends und Szenarien als Werkzeuge zur Strategieentwicklung“ (2007), „Die Weisheit der Roulettekugel“ (2013), ...) und ein gefragter Referent und Speaker, der es versteht seine Erkenntnisse aus Forschung und Praxis auf inspirierende Weise zu teilen.

Als Leiter des Trendmonitoring-Programms der Siemens AG war er 13 Jahre für die technologie- und innovationsstrategischen Themen und Fragestellungen von Siemens verantwortlich.